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Mittwoch, 1. November 2017

Nahe Zukunft durch Tanz gesehen

(Bremen) Die Fans der Tanzsparte kamen am Freitag voll auf ihre Kosten. „Black Rainbow“ die neue Choreografie von Samir Akika und Unusual Symptoms sprengte mit aller verfügbaren Power den Raum des Kleinen Hauses am Bremer Theater. Was als Tanz um die Zukunft beschrieben wird ist aus der unmittelbaren Gegenwart geboren, und häufig eine fantastische, überzeichnete Erzählung und Allegorie der Realität.

Der Hauschoreograf des Bremer Theaters hat nicht nur einen sehr ausgeprägt eigenen Stil mit dem er sich schon einen Namen gemacht hat, er scheint sich auch von Premiere zu Premiere neu zu erfinden. In dieser ehr düsteren Zukunftsvision wird das Publikum mit einem digitalisiertem Abbild als Bühnenbild konfrontiert. Ungefähr ein Dutzend semipermeable Spiegel, übermannsgroß, werden von einem Klon anmutenden Wesen über die Tanzfläche geschoben. Der Raum ist schwarz, zwei Stränge aus Neonleuchten verlaufen unter der Decke schräg über das Bild in die hintere Unendlichkeit. Rauch pufft und hustet aus verschiedenen Ecken und Löchern über vereinzelt stehende Scheinwerfer. Das Licht, das die Dunkelheit mit einer Art Schwarz oder Nachtblau zu erhellen versucht, verbindet sowohl die Bühne mit der Tribüne und schafft eine distanzierte Intimität. Da sitzt jemand vor aufgetürmten Bildschirmen die mit primitiven Motiven simple Darstellungen zeigen (Video von Julia Müller). Am Rand die bekannten Musiker von vorherigen Produktionen: jayrope, Simon Carmatta und Stefan Kirchhoff. 

Musik ist eine Komponente, der Tanz eine andere, das Licht, die Bühnenteile (Spiegel, Türen etc.), der Rauch, die Monitore sind weitere; und alle wirken zusammen so dass etwas ganz neues eigenes entsteht. Samir Akika erzählt nicht gradlinig in kausaler Abfolge, sondern parallel und gleichzeitig. Etwas, das in der Musik als Symphonie beschrieben wird, ist hier das Zusammenspiel von allen Komponenten. Wäre der Begriff des Gesamtkunstwerkes nicht schon so abgegriffen, hier könnte man ihn wieder auf gediegene Weise anwenden. Die gut 70 minütige Vorstellung baut sich auf und lässt einem nicht mehr los. Man wird hineingezogen, und wer nicht gezogen wird, der wehrt sich mit aller Kraft seines logischen Verstandes dagegen. Aber wer sich auf die Reise in die Zukunft begibt, der wird in verschiedene Situationen versetzt: Da ist die Poesie, da ist der durchgekeimte Faschismus, da ist die Faszination des Wunders, da ist Liebe, da ist Gemeinschaft… Und erst wenn der Schlussstein in diesem Puzzle eingefügt wird, wird man sich seiner primitiven Herkunft bewusst.  

Es ist eine großartige Ensemblearbeit bestehend aus den sechs Tänzer/in Ying Yun Chen, Christian Drewicke, Gabrio Gabrielli, Jordan Gigout, Pilgyun Jeong und Antonio Stella. Man kann hier nur aus ganzem Herzen ein großes demütiges Bravo aussprechen. Demut? Ja, denn hier werden ohne Anklage die unterdrückten Gefühle gezeigt die wir alle jetzt mit uns herum schleppen - vielleicht sogar bis in alle Ewigkeit?! Als ein Beispiel von vielen sei hier nur der Moment angeführt als einer seinen Haarschopf immer und immer und immer wieder auf den Boden peitscht. Als wolle er es einfach nicht verstehen können, den Wahnsinn in der Welt (oder was auch immer). Doch es wird nicht mit dem Finger auf einen Schuldigen gezeigt, sondern es wird der Mut aufgebracht, Gefühle zu zeigen die viele Menschen teilen, so eindrücklich, dass es auch der wieder spürt der es bis zur Unkenntlichkeit in sich begraben hatte. So geht es um Beklemmung, Wahnsinn, Verlangen, Stauen, Erlösung, Hoffnung, Verzweiflung, Begehren, Fremdbestimmt sein, Kampf um was auch immer u.v.m. Dieser Abend spricht die Menschen im Herzen an, in der Seele ihres Seins. Habe ich, der Kritiker, vielleicht nicht verstanden worum es hier ging? Sei es drum, allein um den Moment des Erlebens zu spüren, dass ich, der Zuschauer, verstanden wurde kritiklos, simple und unreglementiert, das war es wert!

Mein Tipp: unbedingt hingehen und sich auf ein extraordinäres Erlebnis vorbereiten. Weitere Termine sind am 09.11.17,  22.11.17 und am 17.01.18 jeweils um 20:00. Es empfiehlt sich rechtzeitig Karten zu reservieren.  Karten reservieren hier!!!

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